Faust philosophisch gelesen

Gemeinsam mit Studierenden hat Prof. Dr. Josef Schmidt SJ im vergangenen Wintersemester in einem Seminar Goethes „Faust“ aus philosophischer Perspektive untersucht. In einem ausführlichen Interview beleuchtet Professor Schmidt die philosophische Bedeutung des Werks.

Sie haben im vergangenen Wintersemester ein Seminar zu Goethes „Faust“ angeboten, der aktuell in einem eigenen Festival in München gewürdigt und aus verschiedensten Perspektiven beleuchtet wird. Johann Wolfgang von Goethe war nicht nur Dichter, sondern auch Naturforscher. Sehen Sie ihn auch als Philosophen?

Goethe zeigt sich im „Faust“ philosophiegeschichtlich gebildet. Schon das erste Wort der Engel im „Prolog“ „Die Sonne tönt nach alter Weise in brudersphären Wettgesang“ ist eine Anspielung auf die pythagoräische Lehre von der hörbaren Harmonie der Himmelssphären. In der „klassischen Walpurgisnacht“, in Faust II, 2, diskutieren Anaxagoras und Thales darüber, ob die Oberfläche der Erde durch Feuer oder durch Wasser ihre Gestalt gewonnen hat. Oder: der Baccalaureus, der den im Kleide Fausts auftretenden Mephisto so überheblich angeht, er ist die Karikatur einer bestimmten Fichte-Rezeption, wenn er sagt:

   „Die Welt, sie war nicht eh’ ich sie erschuf;
   Die Sonne führt’ ich aus dem Meer herauf;
   Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf“

Ähnliche Bezüge gibt es viele.

 

Macht das Goethe bereits zum Philosophen?

Als echter Philosoph erweist sich Goethe, indem er Themen dichterisch gestaltet, die Themen der Philosophie sind, Grundfragen der Existenz. So auch die Frage nach dem Leben und den Bedingungen der Zustimmung zu ihm. Ich folge diesbezüglich einem Faden, der das Werk verknüpft, beschränke mich allerdings zunächst auf „Faust I“.

Faust erkennt die Grenzen des akademischen Wissens. Aber es gelingt ihm nicht, dies in einer kritischen Reflexion zu einer „docta ignorantia“ zu erheben, sondern er ergibt sich der „Magie“, stürzt sich also in den Irrationalismus. Von ihm erhofft er – widersprüchlicher Weise: „Dass ich erkenne was die Welt im Innersten zusammenhält“. Faust will aus seiner gelehrten Sekundärwelt heraus und sich dem vollen Leben öffnen. Aber vor dem Anblick des grässlich schönen All-Lebens, das der „Erdgeist“ (die anima mundi) ihm aufdeckt, schreckt er zurück. Zurückgestoßen flucht er einfach allem. Es ist die Haltung des Alles oder Nichts.

 

Welche Rolle spielt Mephisto dabei?

Die Verbindung mit Mephisto soll ihm helfen, beides zu verbinden, alles durchzujagen, um am Ende dessen Nichtigkeit zu erkennen. Hier sind Texte wichtig, die man oft überliest. Faust zu Mephisto:

   „Du hörst es ja, von Freud’ ist nicht die Rede.
   Dem Taumel weih ich mich, dem schmerzlichsten Genuss,
   verliebtem Hass, erquickendem Verdruss.
   Mein Busen, der vom Wissensdrang geheilt ist,
   Soll keinen Schmerzen künftig sich verschließen,
   Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
   Will ich in meinem Innern Selbst genießen,
   Mit meinem Geist das Höchst’ und Tiefste greifen,
   Ihr Wohl und Weh auf meinen Busen häufen,
   Und so mein Selbst zu ihrem Selbst erweitern,
   Und, wie sie selbst, am End’ auch ich zerscheitern“

Finden sich Bezüge zu Faust auch in der Philosophiegeschichte?

Wir konnten im Seminar eine fast wörtliche Übereinstimmung mit Nietzsche-Texten feststellen. Nur dass Nietzsche dieses scheiternde All-Leben zu einer Affirmation hochstilisiert, die aber nur dem „Übermenschen“ möglich ist. Als solcher wurde Faust vom Erdgeist spöttisch bezeichnet und zurückgewiesen. Daraus ergibt sich die „Wette“: Alles durchjagen, nirgends hängen bleiben, zu keinem „Augenblick“ Ja sagen. Wenn das geschähe, wäre Faust sich untreu geworden und hätte sich endgültig verloren. Es ist klar, dass diese Haltung ein einziger Widerspruch ist. Mephisto dazu:

   „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft,
   Des Menschen allerhöchste Kraft,
   Lass nur in Blend- und Zauberwerken
   Dich von dem Lügengeist bestärken,
   so hab ich dich schon unbedingt - [...]
   Und hätt’ er sich auch nicht dem Teufel übergeben,
   er müsste doch zugrunde gehen“

Hegel zitiert diese Verse im Kapitel „Die Lust und die Notwendigkeit“ der „Phänomenologie des Geistes“ und fasst den Widerspruch Fausts in die Doppeldeutigkeit des Wortes „Er nimmt sich das Leben“.

 

Wie wirkt sich dieser Widerspruch aus?

Der Weg Fausts ist damit vorgezeichnet, aber auch seine Tragik. Denn im Grunde sehnt er sich nach dem „Augenblick“ eines gerechtfertigten Ja-Sagens, den er sich zugleich verbieten muss, denn der Augenblick kann nie Alles sein. Die Liebe zu Gretchen wird sie ins Unglück stürzen, denn ein beschränktes Leben mit diesem einfachen Menschen ist ihm unmöglich. Aufschlussreich ist das berühmte „Religionsgespräch“, das aus dem Zusammenhang gelöst oft  für ein beispielhaft zeitgemäßes, weil dogmenfreies, Glaubensbekenntnis gilt. „Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch“. Aber es sind Worte der Verführung, Absage an jede Verbindlichkeit. Gretchen ist klug genug, dem zu widersprechen, „Denn du hast kein Christentum“.

 

Was ist mit dieser Aussage gemeint?

Was sie meint ist: Religion muss sich in einer Ordnung konkretisieren. Das ist für sie die Ordnung, die die Kirche gibt. Aber Gretchen bringt damit ein Prinzip des Religiösen überhaupt zur Sprache, dem sich Faust mit wohlklingenden Worten interessengeleitet entzieht. Die Katastrophe folgt sogleich: Die heimliche Liebesnacht; der sich als tödlich herausstellende Schlaftrunk für die Mutter; die Schwangerschaft; die öffentliche Beschimpfung als Hure durch den Bruder; das für diesen tödliche Duell mit Faust; dessen Flucht aus der Stadt. Die Kindstötung durch die alleingelassene verzweifelte Mutter; Einkerkerung und Todesstrafe. In ihrer Verwirrung legt Gretchen aber noch Selbständigkeit an den Tag. Sie verweigert die Rettung durch Faust und Mephisto, übergibt sich dem Gericht Gottes, das über sie das Wort spricht; Sie „Ist gerettet“. Faust aber scheint unrettbar an Mephisto gefesselt.

 

Goethe hat die Figur des Faust aus dem Puppentheater entliehen. Die Figur lässt sich bis zu einer realen Person, dem Alchemisten Johann Georg Faust ins 15. und 16. Jahrhundert zurückverfolgen. Worin sehen Sie die besondere Leistung Goethes beim Umgang mit diesem Stoff?

Der Plot des Faustbuches von 1587, der sich verkürzt im Puppenspiel findet, ist einfach der: Der rundum frustrierte Gelehrte bekommt durch den Pakt mit dem Teufel die Möglichkeit,  sich alle Wünsche zu erfüllen. Sein Wissensdurst wird sofort in eine wüste Alchimie und Pseudowissenschaft gelenkt. Er kriegt dazu Frauen, gesellschaftliches Ansehen, eben alles, was er will. Aber dafür darf ihn am Schluss der Teufel holen. Es ist eine große moralische Warnung vor ungezügeltem Wissensdurst und maßloser Genusssucht. Goethe aber macht daraus das Drama des Menschen auf der Suche nach Sinn und nach sich selbst. In den Irrwegen eines strebenden spätmittelalterlichen Gelehrten („Es irrt der Mensch, solang er strebt“) spiegelt er das Drama des modernen Menschen. Am Faden von „Faust I“, den ich bereits aufgezeigt habe, ist das zu erkennen. Aber mit der Gretchen-Tragödie, die sich im bisherigen Fauststoff nicht findet, formuliert Goethe auch entschiedene Gesellschaftskritik. Goethe hat als Rechtsanwalt am Frankfurter Schöffengericht 1772 den Prozess gegen die Kindsmörderin Susanna Brandt miterlebt.

 

Lassen Sie uns auch einen Blick auf Faust II werfen.

Der erste Akt des Faust II beginnt mit einem großen Vergessen. Faust erwacht mit neuer Lebensenergie („Des Lebens Pulse schlagen frisch lebendig“). Doch er ist ohne jede Erinnerung an das Vergangene. Für die Leser war das immer ein Schock. Will der Dichter damit sagen, dass das Leben nur unbelastet von der Vergangenheit neu beginnen kann? Aber dann stellt er auch die Frage, ob der Mensch so wirklich zu sich selbst kommt. Das kann er eben nicht, so erfolgreich er auch sein mag. Und zum Erfolg, der die Verdrängung verstärkt, hilft der Teufel. Er bringt Faust an den Kaiserhof. Der zeigt sich als Herrschaft über ein zerrüttetes Reich und ergeht sich im Karneval. Mephisto hilft bei der Inszenierung dieses Schein-Lebens, und löst dazu das Finanzproblem mit der Erfindung des Papiergeldes (der Gegenwert soll in den vermuteten Schätzen unter der Erde ruhen, über die der Kaiser verfügt).

 

Welche Rolle nimmt Faust in dieser Szenerie ein?

Faust ist hier nur Marionette. Doch muss er aktiv werden, als der Kaiser die mythischen Urbilder der Schönheit zur allgemeinen Unterhaltung zur Erscheinung kommen zu lassen fordert. Faust muss allein zu den „Müttern“ hinabsteigen, an den Ort, wo die Ideale in einer kreativen Urwelt zuhause sind. Mephisto ist dieser Ort eines Nichtseins, das zugleich produktive Anfänglichkeit ist, nicht geheuer. Wir sehen hier eine faszinierende Aufnahme platonischer Philosophie in den „Faust“. Die Erscheinung gelingt, Paris und Helena treten auf. Doch Faust zerstört die Erscheinung, indem er wild verliebt Helena ergreifen will. So lässt sich Helena nicht gewinnen. Erst ein künstlich erzeugter Mensch, „Homunkulus“ („Wie sonst das Zeugen Mode war, / Erklären wir für eitel Possen“) weiß Rat. Faust muss in die Traumwelt tiefer eintauchen, in die „klassische Walpurgisnacht“ mit ihren schönen und hässlichen Gestalten. Im 3. Akt kommt die Traumwelt zu ihrem traumhaften Höhepunkt. Faust erlangt Helena. Doch die errungene Harmonie zerbricht. Ihr Sohn legt eine selbstzerstörerische Wildheit an den Tag. Das Faustische schlägt im Sohn auf Faust zurück.

 

Wie geht es nach diesem Abstieg in die Traumwelt weiter?

Im 4. Akt will Faust nicht mehr träumen, sondern handeln: Deiche bauen und Land gewinnen. Dem Kaiser wird geholfen, einen (wohl berechtigten) Aufstand zu gewinnen, und so bekommt Faust den Strand als Lehen. Im 5. Akt ist Faust alt geworden. Er besitzt ein weites, dem Meer abgerungenes Land. Doch kann er nicht ertragen, dass ein altes Paar, Philemon und Baucis (Figuren aus Ovids ‘Metamorphosen’) ihr Heim am früheren Ufer behalten will.

   „So sind am härtesten wir gequält,
   Im Reichtum fühlend was uns fehlt“

Mit halbem Einverständnis Fausts bringt Mephisto die beiden Alten auf seine Weise zur Seite.

 

Bereut Faust diese Tat?

Reue ist bei Faust nicht zu erkennen, wie auch vorher nie (Mit seinem Wort im Kerker „O wär’ ich nie geboren!“ sieht er sich als schlimmes Faktum, das eben geschieht. Reue ist das nicht). Was ihm den nahen Tod ankündigt, hält er für Gespenster und meint, diese durch eine Absage an Magie vertreiben zu können, so auch die „Sorge“. Auf ihre Frage „Hast du die Sorge nie ge­kannt?“ antwortet er mit einer, wie er meint, gereiften Selbsteinschätzung, die sich zur Weltanschauung ausweitet:

   „Ich habe nur begehrt und nur vollbracht
   Und abermals gewünscht und so mit Macht
   Mein Leben durchgestürmt; erst groß und mächtig,
   nun aber geht es weise und bedächtig,
   Der Erdenkreis ist mir genug bekannt,
   Nach drüben ist die Aussicht uns verrannt;
   Tor wer dorthin die Augen blinzelnd richtet,
   Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!
   Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm,
   Was braucht er in die Ewigkeiten schweifen!
   Was er erkennt, lässt sich ergreifen.
   Er wandle so den Erdentag entlang;
   Wenn Geister spuken, geh’ er seinen Gang,
   Im Weiterschreiten find er Qual und Glück,
   Er unbefriedigt jeden Augenblick“

Sein Leben soll jetzt „weise und bedächtig“ gehen? Welche Fehleinschätzung nach dem, was eben mit Philemon und Baucis geschah! Dass er den Gespenstern absagt, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch das „Jenseits“ wird ihm zum Gespenst, und die Absage an es wird mit einer Feuerbachschen Projektionstheorie begründet. Die Folge davon ist ein primitiver Empirismus: „Was er erkennt, lässt sich ergreifen“. Wir haben es hier nicht mehr mit einem mittelalterlichen Menschen zu tun, sondern mit einem durchaus modernen, der eine problematische Aufklärung vertritt, die freilich eine illusionäre Selbsteinschätzung keineswegs verhindern kann. Ist Faust hier nicht mit sich am Ende, so wie am Schluss des ersten Teils? Und dennoch. Trotz allem, in Fausts Streben gibt es einen guten Kern.

 

Wie zeigt sich das?

Der gute Kern offenbart sich in Fausts Schlussvision, die er erblindet und in völliger Fehleinschätzung der Umstände in seinem Inneren erblickt. Er ruft Mephisto und seine Gesellen dazu auf, den Deichbau zu vollenden. Aber das Geklirr der Spaten kommt in Wahrheit von der Aushebung seines Grabes. Der Deichbau wird ihm plötzlich zum Sinnbild eines gemeinschaftlich gesicherten, wenn auch immer gefährdeten guten Lebens. Hier ist das permanente Streben ein Verweilen, ist „Befriedigung“ im „Weiterschreiten“ gefunden.

   „Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
   Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
   Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,
   Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
   Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:
   Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdentagen
   nicht in Äonen untergehn. –
   Im Vorgefühl von solchem hohen Glück,
   Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“

Faust sinkt zurück und stirbt. Mephisto sieht hier nur einen Griff ins Nichts.

   „Den letzten. schlechten, leeren Augenblick,
   der Arme wünscht ihn festzuhalten.
   Der mir so kräftig widerstand,
   Die Zeit wird Herr, der Greis liegt hier im Sand“

Mephisto glaubt sich als Sieger. Hat sein Nihilismus also gesiegt?

   „Chor: Es ist vorbei.
   Mephisto: Vorbei ein dummes Wort,
   Warum vorbei?
   Vorbei und reines Nicht, vollkommnes Einerlei!
   Was soll uns den das ew’ge Schaffen!
   Geschaffenes zu Nichts hinwegzuraffen!
   ‚Da ist’s vorbei!‘ Was ist daran zu lesen?
   Es ist so gut als wär’ es nicht gewesen,
   Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre.
   Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere“

 

Wie deuten Sie diese Stelle?

Die Zeit ist für Mephisto der Beweis des Nihilismus. Denn das Vergangene ist so gut wie nie gewesen. Aber ist das ein Beweis? Goethe stellt dem Leser hier ein philosophisches Problem.

Das Nichts kann doch wohl nicht alles auffressen. Sonst müsste es fähig sein aus sich, also aus nichts, das entstehen zu lassen, was nun einmal ist. Das Nichts bekommt das Sein also nicht los. Und man fühlt sich an den von Mephisto eingeräumten Widerspruch erinnert, mit dem er sich selbst definiert:

   „Ein Teil von jener Kraft,
   die stets das Böse will und stets das Gute schafft“

Und was ist das Böse? Die Verneinung des Seins:

   „Ich bin der Geist, der stets verneint!
   und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
   ist wert, dass es zugrunde geht;
   Drum besser wär’s, dass nichts entstünde.
   So ist denn alles, was ihr Sünde,
   Zerstörung, kurz das Böse nennt,
   Mein eigentliches Element“

Doch die totale Verneinung gelingt nicht. Die Verneinung des Seins ist abhängig von ihm, und das Böse abhängig vom Guten. Diese Abhängigkeit ist die klassische Lehre vom parasitären Charakter des Bösen als „privatio boni“. Damit eröffnet sich für das Drama eine verblüffende Perspektive: Mephisto ist auf jeden Fall Verlierer.

 

Woran machen Sie das fest?

Im Drama zeigt sich das in der zunächst immer unwahrscheinlicher werdenden Rettung Fausts. Der Kern seines Strebens ist trotz allem gut, und so können die Engel seine Seele bewahren.

   „Wer immer strebend sich bemüht,
   Den können wir erlösen.
   Und hat an ihm die Liebe gar
   Von oben teilgenommen,
   Begegnet ihm die selige Schar
   Mit herzlichem Willkommen“

Aber setzt dies nicht Umkehr und Buße voraus? So ist es. Der Hinweis darauf ist, dass Faust von den büßenden Frauen, zu denen auch die „una poenitentium“, Gretchen, gehört, aufgenommen wird.

Wie vollzieht sich diese Umkehr Fausts?

Das bleibt dem Leser verborgen. Im Schluss­gebet des Doktor Marianus wird freilich ausgesprochen, worauf es ankommt:

   „Blicket auf zum Retterblick
   Alle reuig Zarten,
   Euch zu seligem Geschick
   Dankend umzuarten.
   Werde jeder bessre Sinn
   Dir zum Dienst erbötig;
   Jungfrau, Mutter, Königin,
   Göttin bleibe gnädig“

Hier fallen Worte, die bei Faust nie vorkommen: „Reue“, „Dank“, „Dienst“ und der Aufblick zum „Retter­blick“, dem „gnädigen“. Sie sind aber absolut fällig, und Faust ist nur zu retten, wenn er sie mitsprechen kann. Doch die hierzu befähigende Umkehr darzustellen, ist der Dichter nicht mehr gewillt oder nicht fähig. Eben dies ist wohl der Grund, warum Goethe auch den Faust II eine Tragödie nennt. Es ist ein Bruch im Drama, der eine offene Frage unserer Zeit bezeichnet. Die voraussetzungslose absolute Liebe, das heißt die Seite Gottes, von der gesagt werden kann: „das ewig Weibliche zieht uns hinan“, ist hier die Hoffnung, die aber außerhalb des dramatisch Darstellbaren liegt.

 

Was können Ihre Studierenden in der Auseinandersetzung mit Faust lernen?

Nach dem, was ich eben ausgeführt habe, erübrigt sich eine Antwort auf diese Frage. Das Eindringen in den Text und die geduldige Interpretationsarbeit daran eröffnet ein ganzes Universum an Einblicken, an Fragen, Einsichten und Denkmöglichkeiten. Man sieht sich vor ein großes klassisches Werk gestellt, und klassisch bedeutet ja: für jede Zeit aussagekräftig. Eine der wichtigen Aufgaben unserer Hochschule ist es, besonders in den Seminaren, mit den Klassikern vertraut zu machen. ­Es lohnt sich einfach, sie zu lesen, sich in sie zu vertiefen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Was man von ihnen bekommt, ist viel nachhaltiger als so manches Detailwissen, das nach dem Studium bald wieder in Vergessenheit gerät und geraten darf.