Im Gespräch mit Bernhard Waldenfels: Nachbericht zur Tagung "Bezugspunkte und aktuelle Forschungsprojekte zur Phänomenologie des Fremden"

Bernhard Waldenfels ist seit vielen Jahren eine der bedeutendsten Stimmen in der Phänomenologie weltweit. In den letzten drei Jahrzehnten hat er, ausgehend von Begriff und Phänomen der Fremdheit, eine Philosophie entwickelt, welche die Phänomenologie auf der Grundlage der Responsivität der Erfahrung neu durchdenkt. Diese responsive Phänomenologie hat über Disziplin- und Landesgrenzen hinaus eine Vielzahl von Philosoph*innen und Wissenschaftler*innen beeinflusst. Im Rahmen der durch den DAAD geförderten Tagung „Bezugspunkte und aktuelle Forschungsprojekte zur Phänomenologie des Fremden – im Gespräch mit Bernhard Waldenfels“ am 29. Juli 2022, gaben eine Philosophin, ein Kulturanthropologe, ein Theologe sowie zwei Nachwuchswissenschaftlerinnen nun Einblicke in ihre derzeitige Forschung und die Rolle, die responsive Phänomenologie in ihr spielt.

v.l.n.r.: Dr. Robert Lehmann (Moderation), Lena Schützle (Organisation) und fünf der sechs Vortragenden des Abends: Mag. Gudrun Becker, Prof. Bernhard Leistle, Prof. Bernhard Waldenfels, Prof. Barbara Schellhammer, Vanessa Ossino M.A. (Copyright: HFPH)

Den Auftakt in der gut gefüllten Aula der Hochschule für Philosophie München (HFPH) gab Prof. Dr. Barbara Schellhammer, die an der HFPH den Lehrstuhl Intercultural Social Transformation innehat. Vor dem Hintergrund einer Kooperation mit dem Christlichen Sozialwerk Dresden und dem Zentrum Medizin–Ethik–Recht der Universität Halle, führte sie die philosophischen Herausforderungen vor Augen, die sich bei der Frage nach der sexuellen Selbstbestimmung von Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung zeigen. Die „responsive Ethik“ nach Bernhard Waldenfels erweist sich hier als fortschreitendes Korrektiv einer Forschung, die sich zwei tabuisierten Phänomenen, Sexualität und Behinderung, und damit einer doppelten Fremdheitserfahrung und ihren existenziellen Anforderungen öffnet.

Der zweite Impuls von Gudrun Becker, Doktorandin der katholischen Theologie an der Universität Salzburg, stellte die politischen Implikationen einer Philosophie der Fremdheit und Responsivität zur Diskussion. Sie machte deutlich, dass ein solches Denken dem Fremden einerseits seine Ferne lassen muss, ohne es zu vereinnahmen, andererseits die Möglichkeit offenhalten muss, in eine Vertrautheit mit ihm zu geraten. In diesem Spannungsfeld lässt sich Responsivität als Grundlage für eine selbstkritische Haltung verständlich machen, als Bewusstsein für den nie gänzlich einholbaren Anspruch des Fremden und in eins als Ressource für sein Vertrautwerden.

Bernhard Leistle, Professor für Anthropologie an der Carlton University, CA, und DAAD-Gastprofessor an der HFPH, gab einen Einblick in die Entwicklung eines Theorieentwurfes, der es erlaubt, vor dem Hintergrund eines Ereignis-Begriffes, die responsive Phänomenologie in ein anthropologisches Verständnis von Performativität zu integrieren. Am empirischen Material des Chicago Conspiracy Trial wurde deutlich, dass das responsive Eingehen auf fremde Ansprüche mehr ist als bloße Reaktion des Antwortens, vielmehr als performativer, wirklichkeitserzeugender Prozess verstanden werden muss, der sich nicht auf intentionales Handeln von Subjekten oder determinierende Strukturen zurückführen lässt.

Vanessa Ossino, Doktorandin an der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities in Köln und der Université de Fribourg, führte in ihrem Impuls dann tiefer in die medialen und prozessualen Strukturen menschlicher Erfahrung. Erfahrung wurde hier als Ereignis fasslich, das den Boden für das Wechselspiel aus Widerfahren und Antworten bereitet. Sie entfaltet sich nicht als Konstitution von Sinn, sondern als Sinngeschehen jenseits von spontanen Freiheitsakten und kausalen Außeneinwirkungen sowie jenseits eines reinen Tätigseins und starren Erleidens. So wurde ein Begriff von Erfahrung sichtbar, der eine Alternative zu den dominanten Paradigmen einer Philosophie autonomer bzw. heteronomer Subjektivität verspricht.

Als letzten Impuls des Tages skizzierte Franz Gmainer-Pranzl, Professor an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Salzburg und Leiter des Zentrums Theologie Interkulturell und Studium der Religionen, eine Phänomenologie christlicher Glaubenspraxis, in der das Phänomen des Hörens als grundsätzliche Weise des Antwortens verstanden wird. Dadurch gelinge es, religiösen Glauben nicht als Einübung in ein Moralgebilde zu verstehen, sondern als Antwort auf einen intimen Anspruch ernst zu nehmen. Religiöse Offenbarung entwächst so dem Rahmen einer autoritätsorientierten Theologie und zeigt sich als Widerfahrnis, zu dem ich mich antwortend verhalten muss.

Nach einer reichhaltigen Diskussion folgte der mit Spannung erwartete Höhepunkt der Tagung, als Bernhard Waldenfels in einer tour de force entlang der vielfältigen Impulse des Nachmittags die Grundzüge seines Denkweges durchwanderte. In einer Stunde lebendigen Philosophierens wurde deutlich, was es heißt, dass es so viele Fremdheiten gibt, wie wir uns Ordnungen geben. Die schöne Erfahrung, in eine Vertrautheit mit einem Denkgebäude zu geraten, dessen Fundament das Fremde ist, war dann auch noch in den ausgelassenen Diskussionen spürbar, mit denen der Abend ausklang.

(Dr. Robert Lehmann, 29.08.2022)