Dr. Olivia Mitscherlich-Schönherr forscht zu den Grenzfragen menschlichen Lebens

Seit 2017 forscht Dr. Olivia Mitscherlich-Schönherr an der HfPh zur Philosophischen Anthropologie der Grenzfragen menschlichen Lebens und bereichert als Dozentin das Lehrangebot. In diesem Beitrag gibt sie uns Einblick in ihre aktuelle Forschung.

Dr. Olivia Mitscherlich-Schönherr

In den letzten zweieinhalb Jahren habe ich mich in Forschung und Lehre um eine philosophische Auseinandersetzung mit Grenzfragen menschlichen Lebens bemüht. Darunter verstehe ich Fragen, die sich in Grenzsituationen menschlichen Lebens zu Wort melden: in Situationen, in denen das Ineinandergreifen der unterschiedlichen – organischen, leiblichen und sozio-kulturell konstituierten, geistigen – Dimensionen des Lebens zum Problem wird. In solchen Grenzsituationen können anthropologische, ethische und politische Fragen aufkommen: Fragen nach der Verfasstheit des Mensch-seins, nach einem gelingenden Leben sowie nach einer guten, politischen Ordnung des Miteinanders.

Mein besonderes Interesse hat drei Grenzsituationen des Lebens gegolten: dem Sterben, der Geburt und dem Verhältnis zur Technik insbesondere zur ‚verkörperten künstlichen Intelligenz‘ (‚Embodied AI‘). In meinen eigenen philosophischen Beiträgen zur Diskussion der unterschiedlichen Grenzsituationen bemühe ich mich um Ansätze zu einer verstehenden Sympathieethik. Ich gehe von den Gelingensfragen aus, die sich in Grenzsituationen des Lebens u.a. an der Vielzahl von Therapieangeboten entzünden können: von den Fragen, wie wir miteinander ein Leben führen können, das in seinen Grenzen gelingt, glücklich und von Sinn erfüllt ist.

Ich unternehme nun nicht den – notwendigerweise zu kurz greifenden – Versuch, durch rationale Überlegung allgemeingültiges Orientierungswissen zur Beantwortung der Frage zu übermitteln, wie wir unser Leben zu führen haben. Vielmehr wähle ich einen verstehenden Ansatz und bemühe mich darum, die sozio-kulturell verankerten Praktiken der Selbstsorge ins Bewusstsein zu heben, sich inmitten der Grenzsituationen mit den konkreten Gelingensfragen auseinanderzusetzen. Diese sozio-kulturell verankerten Praktiken deute ich als dialogisch geteilte Praktiken. Zusammen mit und unterstützt durch Andere können die Forderungen, die sich in den Grenzsituationen Gehör verschaffen, kritisch überprüft und unterschieden werden. Forderungen sind beispielsweise: sich bestimmten Formen der Therapie zu unterziehen oder zu entziehen, mit lang gehegten Einstellungen oder Werturteilen über ein gutes Leben zu brechen, Beziehungen ‚zu bereinigen‘, zu intensivieren oder neu zu gestalten. Ich möchte eine spezifische Ausgestaltung dieser dialogischen Praktiken des ‚Unterscheidens‘ in den Blick rücken: unterstützt von Anderen inmitten der konkreten Situation, die Forderungen zurückzuweisen, die Ängsten, Ressentiments oder ‚Leitbildern‘ eines guten Lebens aus der eigenen Vergangenheit verschuldet sind; und die Forderungen zu übernehmen, die von den Wertverhalten der konkreten Grenzsituation ausgehen, in der wir uns vorfinden. In dieser Ausrichtung an den ‚Forderungen der Stunde‘ wird im ‚Unterscheiden‘ an den Grenzen des Lebens ein ethos der ‚Selbstliebe‘ ausgeübt: eine existenzielle Grundhaltung, das uns hier und jetzt individuell aufgegebene Mensch-Sein zu verstehen und auszuüben. In der – dialogisch mit Anderen geteilten – Ausübung solcher Akte des Unterscheidens in Selbstliebe kann das Leben an seinen Grenzen als selbstbestimmt und von Sinn erfüllt erlebt und gelebt werden.

Die skizzierten Praktiken der Selbstsorge werden nicht im luftleeren Raum, sondern eingebunden in eine konkrete, politische Ordnung des gesamtgesellschaftlichen Gefüges ausgeübt. In normativer Hinsicht geht es mir in Gestalt meines verstehenden Vorgehens darum, für den künftigen Fortbestand und Ausbau der ‚Kultur der Sorge‘ Verantwortung zu übernehmen, die uns allererst dazu befähigt, miteinander die Forderungen zu ‚unterscheiden, die an den Grenzen des Lebens an uns ergehen.

 

Zu den Fragen nach dem Gelingenden Sterben, der Gelingenden Geburt und dem Gelingen der künstlichen Natürlichkeit hat Olivia Mitscherlich-Schönherr in Kooperation mit weiteren Wissenschaftler_innen und der Katholischen Akademie Bayern seit 2017 drei Tagungen an der Schnittstelle von Philosophischer Anthropologie und Tugendethik organisiert. Die Tagungen haben im interdisziplinären Austausch insbesondere mit der Medizin, der Psychologie, der Theologie sowie den Pflege- und Sozialwissenschaften stattgefunden. Die Akten der Tagungen erscheinen in der interdisziplinär angelegten Publikationsreihe „Grenzgänge. Studien in philosophischer Anthropologie“, die Olivia Mitscherlich-Schönherr zusammen mit Reiner Anselm (LMU) und Martin Heinze (Brandenburg) in Kooperation mit dem de Gruyter-Verlag aufbaut.