Zum Umgang mit Komplexität in Zeiten von Corona

Prof. Dr. Barbara Schellhammer und Lena Schützle vom Zentrum für Globale Fragen (ZGF) der Hochschule für Philosophie München über die Frage, wie wir besorgniserregenden „Ismen“ und Spaltungstendenzen in der Gesellschaft begegnen können.

Die Zahlen derer, die sich mit dem Covid-19-Virus infizieren, steigen wieder. Die Sorge vor dem Herbst und dem Winter wächst. Damit gehen neue Auflagen und Restriktionen der Regierung einher. Das sorgt für Unmut, denn nicht alle sind gewillt, die erneuten Einschränkungen hinzunehmen. Immer wieder kommt es zu Demonstrationen und Verstößen. Das ist zunächst einmal nicht weiter schlimm. Ganz im Gegenteil: Demokratie lebt vom Streit, vom Widerspruch und von einem Prozess des Ringens um den gemeinsamen Weg. Die Belastungsprobe, vor die wir weltweit gestellt sind, führt jedoch immer wieder zu einer gefährlichen Gemengelage, wenn sich Widerstand und Protest mit Verschwörungstheorien und radikalem Gedankengut mischen. Große Hilflosigkeit macht sich breit, wenn Argumente abprallen und kein Dialog möglich ist.

In einer ambivalenten Zeit, in der die Erfahrung großer Solidarität besorgniserregenden „Ismen“ und Spaltungstendenzen in der Gesellschaft gegenübersteht, kommen „Kompetenzen“ ebenso an ihre Grenzen wie wissenschaftliche Erkenntnisse. Gefragt sind vielmehr Dispositionen oder Tugenden, die der lebenslangen Persönlichkeitsbildung entspringen. Dazu gehören Ambiguitätstoleranz, Empathie und die Fähigkeit, durch Wut und befremdliche Parolen hindurch die Ängste, Sorgen und Nöte der Protestierenden zu hören. Ebenso wichtig ist eine Ich-Stärke, die es gewaltfrei vermag, klare Grenzen zu setzen. All das wird erschwert durch den Stress, den gerade die Menschen in besonders großem Ausmaß erleben, die auf der Verliererseite der Pandemie stehen. Gerade sie haben keine Zeit oder innere Ruhe innezuhalten und über die eigene Lage nachzudenken. Es ist kein Wunder, dass sie nach dem nächstbesten Halt greifen, den sie finden können, um ein Gefühl der Sicherheit zurückzugewinnen. Auch das ist in Zeiten des „Social Distancing“ alles andere als einfach. Die Räume der gelebten Zugehörigkeit werden enger und neue Formen der Nähe sind befremdlich: mit Maske und großem Abstand oder im virtuellen Chat.

Halt kann u. a. in der Zugehörigkeit zu sozialen Räumen erfahren werden – und eben auch in der Zugehörigkeit zu Denkräumen. Es ist also nicht verwunderlich, dass gerade in einer Zeit, wo die Unsicherheit und das Nichtwissen so präsent sind, an vermeintlich eindeutigen Meinungen und Positionen festgehalten wird. Dieses Spannungsfeld von entweder/oder, in welchem kaum Raum für Komplexität und Widersprüchlichkeit bleibt, wurde und wird immer wieder von anti-demokratischen Strömungen ausgenutzt. Deshalb bleibt es wichtig, rechte Strukturen sichtbar zu machen und zu benennen, um Straftaten aufklären zu können und Morde zu verhindern.

Es ist der oben beschriebene mentale oder gefühlsmäßige Ableger des Virus, der uns Philosoph*innen vor ganz neue Herausforderungen stellt, wenn wir mit rationalen Argumenten allein nicht mehr weiterkommen. Auch er wird sich in den nächsten Wochen und Monaten weiter ausbreiten. Wie können wir auch jenseits des universitären Settings Denkräume eröffnen, die auch die Leiblichkeit, Emotionalität und Erfahrungswelten der Protestierenden ernstnimmt und so eine positive Kultur des Widerstands fördern, die ermutigt, Bedürfnisse zu formulieren und in den Dialog zu treten, anstatt sich einem einseitig radikalen und reaktiven „Gegen“ anzuschließen? Dabei sollten wir selbst nicht außen vor bleiben, sondern offen sein für eine Philosophie mit transformativem Potenzial für unser eigenes Denken und Handeln.

Prof. Dr. Barbara Schellhammer, Inhaberin des Lehrstuhls für Intercultural Social Transformation und Leiterin des ZGF. Lena Schützle ist Projektkoordination und Bildungsreferentin am ZGF. Das Zentrum für Globale Fragen ist ein Institut der Hochschule für Philosophie München. Als „Third Mission Institut“ arbeitet das ZGF an der Schnittstelle von Forschung und Gesellschaft und verbindet philosophische Reflexion mit sozialwissenschaftlich-empirischer Forschung. Dabei fokussiert es sich auf gesellschaftlich und politisch bedeutsame Themen wie Klimawandel, Nachhaltigkeit, Migration, Interkulturalität.

Dieser Text erscheint zeitgleich auf dem Blog Kontrapunkte des ZGF. Auf dem Blog Kontrapunkte siedeln das Team des ZGF sowie eingeladene Gastautor*innen (Akademiker*innen sowie Laien) ihre Analysen im Spektrum von aktuellen globalen Entwicklungen, Perspektiven auf weltweite Solidarität und Transformation an.

Hier geht es zum Blog.