Aristotle's Metaphysics Book XII

Aristotle's Metaphysics Book XII, Blockseminar in Marieudd bei Uppsala, Juni 2004; Bericht von Martin Kowarsch

1.) Ziel und Aufbau des Seminars

Das Seminar, das bezüglich der Ansprüche an die Teilnehmer(-innen) in etwa einem (philosophisch-exegetischen) Seminar an unserer hiesigen Hochschule entsprach, sollte den Studierenden einen Überblick über und einen ersten vertieften Einblick in das Anliegen von Lambda und die wichtigsten Argumente der einzelnen Kapitel geben. Zusätzlich wurden Methoden zur Interpretation philosophischer Texte und philosophisches Denken und Argumentieren generell vermittelt.

Der Aufbau des Seminars orientierte sich an der Gliederung des XII. Buches der Metaphysik von Aristoteles. Nach einem einführenden Referat zu der Stellung von Lambda innerhalb der Metaphysik des Aristoteles durch Prof. Dr. Michael Bordt SJ am Sonntagabend fanden täglich je zwei Einheiten von je ca. 120 min statt, in welchen je eines der zehn Kapitel vom Buch Lambda behandelt wurde. In dem kleinen Tagungshaus, inmitten eines Waldes und direkt an einem Binnensee, ließ es sich gut und ungestört arbeiten.

 

2.) Vorgehensweise im Seminar

Mit Ausnahme des Einleitungsreferates von Prof. Bordt am Sonntag wurden die Inhalte des Seminars vor allem in der Diskussion erarbeitet. Die Diskussionen orientierten sich zunächst jeweils an den Fragen, die Prof. Bordt bereits vor dem Seminar zu den einzelnen Kapiteln zwecks Vorbereitung gestellt hatte. Angesichts der enormen Schwierigkeiten bei der Interpretation von Lambda blieben natürlich einige Fragen offen, zu vielen Fragen gab Prof. Bordt jedoch hilfreiche Erklärungen und Interpretationsideen in die Diskussion.

Durch die überschaubare Gruppengröße und die Offenheit vieler Probleme war es uns also ermöglicht, Philosophie recht ursprünglich im Dialog zu erlernen und zu betreiben.

3.) Hauptdiskussionspunkte

 

Metaphysische Texte sind inhaltlich nicht unbedingt bekannt dafür, leicht einsichtig zu sein. Da es plausibel ist anzunehmen, dass der uns überlieferte Text des (wohl als ein eigenständiges Werk anzusehenden) Buches Lambda nur ein Vorlesungsmanuskript des Aristoteles darstellt, ist jedoch schon unabhängig vom Inhalt verständlich, dass ein derart notizenartiger Text schwer zu verstehen ist und viele Gedankengänge erst rekonstruiert werden müssen. Ich werde im Folgenden einige zentrale Diskussionspunkte dieser Woche über Interpretationsfragen herausgreifen und ganz kurz darstellen:

a) Das Projekt vom Lambda: Theologie? Metaphysik?

Das Buch Lambda lässt sich in drei Teile gliedern: das einleitende erste Kapitel, die Kapitel 2-5 über die sinnlich wahrnehmbaren Substanzen, sowie Kapitel 6-10 über die unbeweglichen (unveränderlichen, immateriellen und damit sinnlich nicht wahrnehmbaren) Substanzen. Die Frage ist, ob es sich um voneinander eher unabhängigen Teiluntersuchungen handelt: zuerst eine physikalische Untersuchung, dann eine theologisch-metaphysische?
Die drei Teile lassen sich vielleicht aber auch sinnvoll unter einem zusammengehörenden Projekt verstehen: als eine metaphysische Untersuchung über die hierarchisch geordneten Ousiai („Substanzen“ oder „Wesenheiten“) vom sinnlich wahrnehmbaren Seienden bis hin zum unbewegt Bewegenden, wo die Untersuchung eher nebenbei in eine Theologie übergeht. Hierbei ist Theologie als philosophisch-metaphysische Untersuchung zu verstehen, bei der etwas über Gott ausgesagt wird. Interessante Diskussionen entbrannten auch an der Frage nach dem Verständnis der Gründe, die Aristoteles für die Untersuchung an sich anführt. Die entscheidende Hilfestellung durch Prof. Bordt für das Verständnis des zweiten und dritten Grundes (nämlich dass es etwas schlechthin Seiendes geben muss sowie etwas getrennt Existierendes) war sicherlich die definitorische Unterscheidung von „schlechthin seiend“ (linguistische Definition: kann nicht von etwas außer von sich selbst prädiziert werden) und „getrennt existierend“, ein von Platon geprägter Begriff, der eine volle ontologische Unabhängigkeit meint. Hiermit ergaben sich viele neue Fragen, aber auch Verständnisansätze für das Projekt von Aristoteles. Geht man davon aus, dass Aristoteles - wie bei ihm üblich - zu Beginn der Abhandlung zunächst verschiedene populäre Kriterien für die Ousia aufzählt, diese aber eventuell später widerlegen kann, dann darf man das Problem, dass die von ihm zunächst behandelten sinnlich wahrnehmbaren Substanzen wie Menschen und Tiere sicher nicht im vollen Sinne ontologisch getrennt existieren, nicht überstrapazieren.

b) Materie

Das erste der äußerst problematischen und selten behandelten Kapitel über die wahrnehmbaren Substanzen war stark von Diskussionen über den Materiebegriff (hyle; Prinzip der Potentialität) des Aristoteles geprägt. Hierbei bereitete Aristoteles` scheinbar widersprüchliche Aussagen, dass sich die Materie einerseits verändert (wie auch in Kapitel 3), andererseits aber dasjenige darstellt, was beharrt bei einer Veränderung, größte Probleme. Es wurden zwei Verständnisvorschläge diskutiert: zum einen, dass Aristoteles einfach verschiedene Hinsichten meint, unter denen sich die Materie einmal verändert und einmal nicht; zum andern, dass Aristoteles hier nicht über ein Substanz-Akzidenz-Modell hinausgeht, wobei der Materiebegriff hier für die Substanz und ihre Eigenschaften stünde, während der Formbegriff nur bei Gewordenem eine Rolle spielt. Beide Ansätze zum Verhältnis von Materie und Identität der Substanz blieben letztlich unbefriedigend.
Unklar für dieses und weitere Kapitel war zudem, ob es nur für vergängliche oder auch für ewige wahrnehmbare Substanzen (Sterne) zu gelten hat.

c) Prinzipien

Neben den Problemen mit den uneinheitlichen und unklaren Konzeptionen von Veränderung (z.B. einmal Beraubung, einmal Wirkursache als drittes Prinzip) und der Frage, ob es für Aristoteles (neben den partikulären Formen) Artformen gibt, waren auch Kapitel 4 und 5 über die Prinzipien nicht einfach, auch wenn sich im Laufe der Einheiten vieles klärte. Der letzte Satz von Kap. 1 war auch im Zusammenhang mit diesen Kapiteln ein Problem, das die ganze Woche über immer wieder auftauchte: Aristoteles sagt, dass die unbeweglichen Substanzen einer anderen Wissenschaft (als der Physik) angehören, sofern sie mit den wahrnehmbaren kein gemeinsames Prinzip haben. In Kap. 4, 5 untersucht er nun diese Frage. Warum spricht Aristoteles in der These von aitia (Ursachen), aber in der Frage von stoicheia (Elementen)? Aristoteles spricht vielleicht mit voller Absicht von Elementen, weil es ihm um diejenigen Ursachen geht, die einer Sache inhärent sind (=Elemente). Für diese Ursachen gilt tatsächlich, dass sie nicht kategorienübergreifend sein können - sie sind nur allgemein und der Analogie nach dieselben. Damit ist aber nicht gezeigt, dass es nicht eine numerisch gemeinsame Ursache geben kann - das ist eben der unbewegte Beweger, der aber ein externes Prinzip ist und als solcher nicht zu den Elementen gerechnet wird. Somit gehören die wahrnehmbaren und die unbeweglichen Substanzen in einer Hinsicht derselben Wissenschaft an - weil sie nämlich ein gemeinsames Prinzip im unbewegten Beweger haben, andererseits kann diese gemeinsame Wissenschaft nur die Metaphysik sein. Leider klärt Aristoteles den Unterschied (der Intension) von Ursachen und Prinzipien nicht befriedigend.

d) Zahl der unbewegten Bewegenden

In Kap. 8, in dem er komplizierte Astronomie seiner Zeit einbringt, bleibt die wichtige Frage offen, ob Aristoteles nun mehrere unbewegte Bewegende annimmt oder nur einen. Klar ist, dass jede Sphäre gesondert bewegt wird von einem unbewegten Bewegenden. Allerdings erläutert Aristoteles selbst, dass man materielose Substanzen nicht zählen kann. Gibt es also doch nur eine unbewegte Ousia? Dass Aristoteles eine Hierarchie innerhalb der Substanzen annimmt, bei der der eine unbewegte Beweger der äußersten Himmelssphäre die höchste Position einnimmt, scheint jedoch klar zu sein.

e) „Nous”

Sehr erhellend war die Diskussion um Kap. 9 und der Interpretationsvorschlag von Prof. Bordt. Das viel geplagte Zitat: „Das Denken ist Denken des Denkens” kann man so verstehen, dass man als Mensch dann das eigene „Denken” denkt (und somit die Vernunft und das Gedachte nicht verschieden sind), wenn man gerade an etwas denkt, das im eigenen Denken ist (abstraktes Wissen z.B.; „Stoffloses”). Gott jedoch hat Wissen über alle Aktualitäten gleichzeitig, er denkt an die reine Aktualität, die er ja selbst ist. So denkt er sein Denken. Diese im Vergleich zu anderen gar nicht mehr so neuplatonisch oder idealistisch anmutende, fast simple Interpretation kann sich stark auf denjenigen Teil von Kap. 9 stützen, in dem Aristoteles diese Einheit von Denken und Gedachtwerden am Beispiel der menschlichen Wissenschaften aufzeigt.

4.) Ergebnisse

Die Ziele des Seminars wurden aus meiner Perspektive sehr gut erreicht; ebenso diejenigen, die ich mir für mich u.a. vorgenommen hatte für dieses Seminar: einen (antiken) philosophischen Text interpretieren lernen, eine Art zu Denken kennen zu lernen und viel Freude an einem unglaublich dichten, tiefen und reichhaltigen Text zu haben, der mir einen neuen Zugang zur Philosophie überhaupt bescherte.