X. Internationaler Kant-Kongress

X. Internationaler Kant-Kongress, "Recht und Frieden in der Philosophie Kants", 04.09.-09.09.2005, São Paulo, Brasilien;Tagungsbericht von Maria Schwartz

Der Internationale Kant-Kongress, der in ca. 5jährlichem Abstand stattfindet, tagte im September 2005 zum ersten Mal nicht etwa in den USA oder Europa wie die vergangenen neun Kongresse, sondern in der südamerikanischen Zwanzig-Millionen-Stadt São Paulo. Der Einladung der Brasilianischen Kant-Gesellschaft zum X. Kant-Kongress folgten an die 500 Philosophen und Kantforscher, um sich sechs Tage lang in 18 Themensektionen auszutauschen und Plenumsvorträge von u.a. O. Höffe, B. Herman und F. Marty zu hören.

Der Kongress startete sonntags mit einem Referenten aus São Paulo, Prof. Giannotti, der sich neben Kant auch auf Wittgenstein und Husserl bezog. Nachmittags fiel die Auswahl bei sechzehn thematischen Sektionen mit 4-6mal so vielen Vorträgen nicht leicht. Ich entschied mich für fünf Beiträge aus dem Bereich der praktischen Philosophie Kants, darunter ein sehr interessanter Beitrag Oliver Sensens (New Orleans) über den Begriff der „Würde“ in Kants „Grundlegung“. Abends problematisierte Barbara Herman (Los Angeles) in ihrem Plenumsvortrag die Rede von der „politischen Notwendigkeit“, welche die Verletzung ethischer Normen nur scheinbar rechtfertigen könne. Herman betonte aber auch die Wichtigkeit von moralischer Vorstellungskraft und Kreativität, die eine adäquate Anwendung dieser Normen gewährleisten.

Der zweite Kongresstag wurde von einer Amerikanerin, P. Kitcher aus New York, eröffnet. Sie sprach über Kants „Ich denke“, gefolgt von H. Williams (Wales), der Hobbes und Kant verglich. Auf großes Interesse stieß dann der dritte Vortrag M. Baums (Wuppertal), der eine differenzierte Untersuchung zum Zusammenhang von Wille und Willkür vorstellte und sich dabei auch auf weniger geläufige Texte Kants bezog. Er stellte die Frage, inwieweit man bei Kant von „Wahlfreiheit“ sprechen kann und beantwortete diese in Bezug auf die Existenz des Menschen als noumenales Wesen negativ. Unter den Nachmittagsvorträgen will ich wiederum nur einen herausgreifen. Jens Timmermann (St. Andrews) setzte sich in „Limiting Freedom“ mit einer Position Korsgaards zum Zweckbegriff bei Kant auseinander, eine erhellende Diskussion mit B. Herman u.a. folgte. Für den Abend war wie schon am Sonntag nur ein Vortrag angesetzt. Paul Guyer (Pennsylvania) versuchte die These zu vertreten, dass Kant in GMS III lediglich bewiesen habe, dass er selbst frei sei, nicht aber, dass alle anderen auch frei seien.

Dienstags sprach zunächst Eckhart Förster (John Hopkins University) über die Grenzen der Erkenntnis. Er griff dabei nicht nur auf sein besonderes Expertisengebiet, das Opus postumum Kants zurück, sondern zog auch Parallelen von Kant zu verschiedenen antiken Theorien der Optik. Wolfgang Carl (Göttingen) untersuchte im Anschluss Kants Widerlegung des Skeptizismus. Den letzten Vortrag des Vormittags hielt François Marty (Paris) mit Überlegungen zur Frage des ewigen Friedens und zum „ethischen Gemeinwesen“, das in der Religionsschrift Kants eine große Rolle spielt. Nachmittags war ich froh, unter den 63 Sektionsvorträgen neben anderen auch S. Yosts mit dem Titel „Freedom and Death“ besucht zu haben. Yost diskutierte Kants Argumente für die Todesstrafe in der „Metaphysik der Sitten“. Er unterschied dazu zwischen einer Art des geistig-moralischen (spiritual) Todes und dem physischen Tod, der im Zweifelsfall dem ersteren vorzuziehen sei. Mario Caimi (Buenos Ayres) sprach abends über die Einbildungskraft in der „Kritik der reinen Vernunft“.

Am 7. September finden in ganz Brasilien Militärparaden statt, um der Unabhängigkeit des Landes von der portugiesischen Kolonialherrschaft (7.9.1822) zu gedenken. An diesem brasilianischen Feiertag gab es nur drei Plenumsvorträge: Silvestro Marcucci (Pisa) sprach über den 30jährigen Kant als Naturforscher und Michel Fichant (Paris) untersuchte den Begriff der „Reflexion“. Marcus Willaschek (Frankfurt) stellte anschließend in seinem Vortrag die Frage, warum Metaphysik bei Kant notwendig ist. Die Nachmittagssektionen entfielen, abends wurden die Kongressteilnehmer im Goethe-Institut empfangen.

Der Donnerstagvormittag wurde von Themen aus der Ethik und Anthropologie Kants dominiert. Jean François Kervegan (Paris) untersuchte den Zusammenhang von Rechts- und Tugendpflichten sowie die Entstehung von Handlungsnormen. Bernd Dörflinger (Trier) unterschied „Gattungspflichten“ (Was sollen wir tun?) von Individualpflichten (Was soll ich tun?) und vertrat unter kritischer Bezugnahme auf Kants Religionsschrift, dass die Verwirklichung nicht nur der individuellen Pflichten, sondern auch der Gattungspflichten aus eigener Kraft und insbesondere ohne göttliche Mitwirkung möglich sein müsse. Der Vorsitzende der Brasilianischen Kant-Gesellschaft, Valerio Rohden, zeichnete dann die Verwendung des Begriffs des „Solipsismus“ bei Kant nach, nicht ohne ihn abschließend vor dem Hintergrund der Philosophie Erich Fromms zu betrachten: Niemand liebt sich selbst, der nicht auch andere liebt. Die Sektionsvorträge dieses Tages waren besonders interessant, da einige thematisch zusammenhängende Vorträge direkt hintereinander gehalten wurden. So sprach nach C. Fricke (Oslo) auch ich selbst über den Begriff der Maxime bei Kant, zwei Vorträge behandelten das Verhältnis von Kant zu Baumgarten, drei Beiträge stellten unterschiedliche Ansätze zum Problem der Notlüge und Kants Rigorismus in dieser Frage vor. Einige Sektionen begannen erst heute, darunter „Kants Geschichtsphilosophie“ (mit u.a. T. Nawrath) und „Kants Opus Postumum“. Abends fand die Preisverleihung der ZEIT-Stiftung statt: Henry E. Allison (Boston / Sacramento) erhielt den Internationalen Kant-Preis, Michelle Grier (San Diego) den Kant-Nachwuchspreis. Allisons einflussreiches Lebenswerk wurde von R. Pippin gewürdigt.

Am letzten Kongresstag setzte sich Antonio Marques (Lissabon) mit der „transzendentalen Reflexion“ auseinander, Claude Piché (Montreal) stellte eine Untersuchung zu Kant und Reinhold vor und Oskar Negt (Hannover) spannte den Bogen von Kant über Hans Jonas zu Marx. Nachmittags wollte ich noch einige Sektionen besuchen, die nicht unmittelbar mit Kants praktischer Philosophie zu tun haben: ich hörte einen Beitrag zu Kants Rechtsphilosophie, dann Prof. Ayatollahys aus Teheran zu einem Thema aus der Religionsphilosophie und Vorträge aus der Sektion „Kants Anthropologie“. Den Abschlussvortrag des Kongresses hielt Otfried Höffe (Tübingen), der Kants „universalen Kosmopolitismus“ plastisch schilderte. Nach der Danksagung B. Dörflingers an die Veranstalter und die vielen studentischen Mitarbeiter, die den reibungslosen Ablauf des Kongresses erst ermöglichten, ging der X. Internationale Kant-Kongress zu Ende.

Alles in allem war es ein eindrückliches Erlebnis, in einer Woche nicht nur unterschiedliche Themen, sondern auch lokal sehr verschiedene Herangehensweisen und Methoden der Kantforschung kennenzulernen. Die Teilnehmer stammten aus mindestens vier Kontinenten und in den Pausen gab es reichlich Gelegenheit zum wechselseitigen Austausch und zur Diskussion. Diese drehte sich freilich nicht nur um Kant, sondern auch z.B. auch um Themen wie die Aristotelesrezeption in der zeitgenössischen iranischen Philosophie, das angelsächsische Tutoriensystem und den brasilianischen Korruptionsskandal. Die Fülle der doch über 300 Sektionsvorträge machte es ansonsten jedoch schwer, neben seinem „Fachgebiet“ noch einen Einblick in andere Bereiche zu erhalten. Zudem waren viele Sektionen mit 2-5 Teilnehmern äußerst schwach besucht – vor allem deshalb wäre eine Reduzierung der Beitragszahl im Vorfeld vielleicht sinnvoll gewesen. Insbesondere Forscher, deren Schwerpunkt in der praktischen oder theoretischen Philosophie Kants liegt, konnten bereits zwischen mehreren Sektionen „ihres“ Gebiets wählen – und blieben so größtenteils unter sich. Die Leistung des diesmaligen Kant-Preisträgers H. Allison besteht daher auch und gerade in der umfassenden Darstellung von Kants praktischer wie theoretischer Philosophie, welche mit Blick auf die aktuelle, durch zahlreiche Detaildiskussionen zerklüftete Forschungslandschaft nicht (mehr) selbstverständlich ist.

Internethinweise und Anmerkungen

Ein gekürzter Tagungsbericht ist erschienen in: Information Philosophie 01/2006, 139-141.

Mein eigenes paper des Titels „Maximen, Ratschläge der Klugheit und der verborgene Zweck“ ist im Zusammenhang mit meiner bei Prof. Ricken verfassten Magisterarbeit (Münster/Berlin 2006) an der Hochschule für Philosophie München entstanden. Ich danke der Deutschen Kant-Gesellschaft und pro philosophia e.V. für die Förderung der Kongressreise.

 

Maria Schwartz