18 | PD Dr. Mara-Daria Cojocaru

Intellektuelle Tugenden und soziale Erkenntnis: Ausgewählte Trends in der zeitgenössischen Epistemologie

Proseminar 2-stdg. Dienstag, 14–16 Uhr
Raum: Seminarraum 5
Termine: ab 18.10.2016

BA: III/1

Thematik

In diesem Kurs wollen wir uns mit der Bestimmung von Wissensformen befassen, die unter den Überschriften ‚virtue epistemology’, also einer Spielart der Erkenntnistheorie, die intellektuelle Tugenden in den Vordergrund stellt, und ‚social epistemology‘, also einer Spielart der Erkenntnistheorie, die sich für die soziale Dimension von Wissen interessiert, gemacht worden sind. Hinter beiden Bezeichnungen steht eine Vielfalt hoch komplexer Debatten, die mit der traditionellen Erkenntnistheorie teilweise mehr, teilweise weniger Berührungspunkte aufweisen. In diesem Pro-Seminar können wir die Komplexität nur teilweise abbilden. Um einen Einstieg zu finden, verengen wir den Fokus und steigen über pragmatistische Themen in die Debatte ein: Denn dass Erkenntnistheorie normativ ist, und dass individuelle Tugenden für gute Forschung genauso wichtig sind wie die Reflexion des Sozialen dabei, sind urpragmatistische Einsichten. Deswegen werden wir uns im ersten Teil des Kurses mit zentralen Textauszügen von Charles Sanders Peirce auseinandersetzen, die sowohl den Gemeinschaftsbezug von intellektueller Arbeit als auch die individuellen Einstellungen, die für diese Arbeit notwendig sind, einführen. Zu diskutieren sind die Konzeption von ‚Gemeinschaft‘ und von ‚intellektuellem Gedeihen‘, die hier eingeführt werden, sowie die Frage, genau welche intellektuellen Tugenden letztlich gefordert sind. Dabei hilft uns ein Blick in die Sekundärliteratur von Christopher Hookway und David Hildebrandt. Zwei Themen werden sich in diesem ersten Block herauskristallisiert haben: Die soziale Konstitution von Wissen durch das Zeugnis anderer und der hohe Wert des Zweifels. Wir nehmen diese Themen im zweiten Block auf und diskutieren erstens, in Auseinandersetzung mit der Arbeit von Miranda Fricker, die Frage, ob es so etwas wie genuin epistemische Ungerechtigkeit geben kann, und welche Rolle Tugenden dort spielen, wo Erkenntnis politisch wird. Dem schließen wir ergänzend die konstruktive Kritik von Elizabeth Anderson an, die den Fokus weg von individueller Tugendhaftigkeit hin zu Institutionen lenkt. Indem wir als nächstes verschiedene Formen des Zweifel angeleitet durch die Diskussion von Lorraine Code problematisieren leiten wir über zum dritten Teil des Kurses, in dem wir über konkrete Probleme sprechen wollen. Dabei geht es einmal darum, anhand der Debatte um den Klimawandel sowohl die Frage nach den intellektuellen Tugenden, die dieses Problem aufwirft, zu klären als auch die Begrenzungen des epistemischen Individualismus in diesem konkreten Fall zu diskutieren. Zuletzt wollen wir fragen, wie kollektiver Ignoranz im Falle der Massentierhaltung durch einen Verweis auf intellektuelle Tugenden begegnet werden könnte. Wieder stellt sich die Frage, vorausgesetzt wir akzeptieren, dass es in gewisser Weise verantwortungslos oder lasterhaft ist, bestimmte Dinge nicht zu wissen, wie ein verantwortungsvoller Zweifel und sozial wirksame Kritik aussehen könnten, um diesem Unwissen zu begegnen.

Ziele

Wir wollen zeitgenössische Debatten in der Erkenntnistheorie verstehen und an pragmatistische Anliegen zurückbinden. In dem Kurs geht es nicht um Vollständigkeit, sondern darum, sich in der genauen Auseinandersetzung mit den ausgewählten Texten und Problemen auch über das eigene Denken zu vergewissern. Können wir der Rede von intellektuellen Tugenden etwas abgewinnen? Inwiefern ist Erkenntnis sozial? Ist das gut oder schlecht oder nur das, was wir daraus machen? Und hilft uns die Reflexion dieser Themen irgendetwas dabei, Probleme unserer Zeit besser zu verstehen?

Methode

Die klassische Lektüre und Analyse der Texte bietet die Grundlage für die Arbeit im Seminar. Zu Lektüre und Analyse philosophischer Texte wird je nach Bedarf zu Beginn des Seminars ein Vorschlag gemacht. Die Arbeit im Seminar selbst soll wesentlich vom Austausch unter den Studierenden bestimmt werden; das genaue Verfahren wird gemeinsam in der ersten Seminarsitzung entschieden: Referate ja oder nein, Sitzungsmoderation, Gruppenarbeit, Gewicht zwischen Rekonstruktion und Diskussion usw.

Voraussetzungen

Bereitschaft zur Lektüre englischer Texte (wirklich wichtig!), Offenheit für pragmatistische Anliegen in der Tradition von Peirce, und Lust auf kritische Reflexion intellektueller Arbeit (inkl. Selbstkritik).

Qualifikation

Seminararbeit, Teilnahme an Moodle-Aktivitäten.

Literatur

Ausgewählte Textpassagen von Charles S. Peirce (aus: „Fixation of Belief“, „Questions Concerning Certain Faculties Claimed for Man“, „Some Consequences of Four Incapacities“), Kap. 10 aus Christopher Hookways Truth, Rationality, and Pragmatism, „Genuine Doubt and the Community in Peirce’s Theory of Inquiry“ von David Hildebrandt, „Epistemic Justice and the Role for Virtue in the Politics of Knowing“ von Miranda Fricker, „Epistemic Justice as a Virtue of Institutions“ von Elizabeth Anderson, „Culpable Ignorance?“ von Lorraine Code, „Doubt and Denial: Epistemic Responsibility Meets Climate Change Scepticism“ von Lorraine Code, „The Epistemic Demands of Environmental Virtue“ von Jason Kawall, und „Affected Ignorance and Animal Suffering: Why Our Failure to Debate Factory Farming Puts Us at Moral Risk“ von Nancy M. Williams. (Wird alles auf Moodle eingestellt, die eigene Recherche der Texte in der elektronischen Zeitschriftenbibliothek ist aber natürlich (bis auf Hookway und Hildebrandt) möglich (und sinnvoll) - bei Fragen dazu, einfach eine Mail an Dozentin.)