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Politische Philosophie der Neuzeit und die Aufdeckung ihrer Grundstrukturen

Vorlesung 2-stdg. Montag, 16–17 Uhr und Donnerstag, 16–17 Uhr
Raum: Seminarraum 5
Termine: ab 11.4.2016

Thematik

Warum interessieren wir uns überhaupt für die politische Philosophie unserer Geschichte? Die naheliegende Antwort lautet: Weil wir uns davon eine Belehrung über die politische Lage der Gegenwart versprechen. Rezepte dafür, wie wir uns jetzt politisch verhalten sollten kaum finden; wenn wir aber ihre Gedanken gründlich durchschauen, werden wir etwas anderes und wahrscheinlich wichtigeres gewinnen. Wir werden zu einer Besinnung gelangen über die Horizonte unseres gegenwärtigen Handelns. Wir wissen, dass jedes Handeln einen Horizont voraussetzt, aber wir denken normalerweise nicht eigens über den jeweiligen Horizont unseres Handelns nach, machen ihn nicht ausdrücklich zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit. Der Horizont ist gewissermaßen nicht unser Thema.

Als Thema im Licht unserer Aufmerksamkeit stehen unsere jeweiligen Pläne, Vorhaben, Ziele, außerdem die Dinge oder Menschen, mit denen wir bei unseren Handlungen zu tun haben. Dass unsere jeweiligen handlungsleitenden Entscheidungen in Horizonte eingebettet sind, ist uns normalerweise nur indirekt bewusst, nämlich so, dass wir von den Entscheidungsmöglichkeiten, die ein Horizont jeweils bereithält, Gebrauch machen. Die politische Besinnung der politischen Philosophie holt nun die Horizonte, die beim Handeln und beim Sich-Entscheiden im Rücken unserer Aufmerksamkeit bleiben, nach vorne; und damit nimmt diese Besinnung notwendig eine Distanz zum Handeln ein, und d.h. zu allem, worauf wir beim Handeln hinauswollen können. Diese Distanz macht der politischen Philosophie unmittelbar Handlungsanweisungen unmöglich. Die Besinnung auf die Horizonte versetzt uns im Prinzip in die Lage, uns diese früheren Entscheidungen zu vergegenwärtigen. Damit bekommt die politische Philosophie, obwohl sie keine unmittelbaren Handlungsanweisungen geben kann, doch eine große mittelbare Bedeutung für unser gegenwärtiges politisches Handeln. Dies ist geprägt von der demokratischen Grundauffassung der Gesellschaft, die vom Verhältnis Wähler-Gewählte gekennzeichnet ist. Es handelt sich also um ein Verhältnis, das wesentlich durch den Willen bestimmt wird. Das kommt übrigens darin zum Vorschein, dass alle ganz selbstverständlich vom Wähler-Willen reden, aber mit dem Unterschied, wie man sich die Wahl als Willensakt denkt. Für die einen handelt es sich um einen Willensvollzug von der Form des Befehls, und der Befehl lautet: Ich will, dass du diese und jene Aufträge erfüllst. Für die anderen hat der Willensvollzug des Wählens den Charakter eines: Ich vertraue dir; ich setzte mit meinem Willen darauf, dass du kraft deiner Haltung und Persönlichkeit in der Lage sein wirst, die Aufgaben zu erfüllen, die durch eben diese Wahl zufallen.

Das Willensprinzip prägt also ganz selbstverständlich den Horizont unseres politischen Denkens und Verhaltens, aber wir denken über seinen Sinn, und d. h. zugleich aber seine Herkunft normalerweise nicht eigens nach. Genau da haben Sie nun eine Aufgabe der Besinnung der politischen Philosophie.

Ein zweites Leitprinzip der Politik heute ist, den „Lebensstandard“, in dem wir heute leben, erhalten oder möglicherweise verbessert wird. Hier kommt nun eine fundamentale Frage in Sicht, nämlich: Warum sind wir denn so selbstverständlich auf so etwas wie Lebensstandard fixiert? Unter „Lebensstandard“ verstehen wir einen gewissen Inbegriff von Gütern, Daseinsmöglichkeiten und Daseinssicherungen, die gewährleisten, dass unsere Bedürfnisse befriedigt werden. Die Befriedigung von Bedürfnissen verschafft dem Menschen Lust, Genuss, Freude. Nun möchte jeder Mensch, dass sein Leben gelingt, glückt. Dieses Gelingen des Lebens nennen wir traditionell das Glück. Zum Glück gehört ein Gefühl der Annehmlichkeit, der Zufriedenheit. Die Frage ist: Welches soll denn die Hauptquelle dieser Annehmlichkeit des Glücks sein? Wir machen unser Glück von der Lust bei der Bedürfnisbefriedigung abhängig und deshalb sind wir alle auf so etwas wie Lebensstandard fixiert.

Ziele

Die beiden Aspekte unserer gegenwärtigen Lebenssituation, die ich herausgegriffen habe, haben uns darauf gebracht, dass unsere gegenwärtige Lage dadurch bestimmt ist, dass zwei Begriffe in der neuzeitlichen politisch-gesellschaftlichen Denkart und Praxis eine Vorrangstellung erlangt haben, nämlich der Begriff des Willens und der Begriff des Bedürfnisses. Wille und Bedürfnis - das wir im Lauf der Vorlesungen zeigen - sind in der Tat die beiden Grundstichworte zum Verständnis der Eigenart des neuzeitlichen politischen Denkens und unserer - diesem Denken entsprechenden - Praxis.

Das ist der eigentliche Grund dafür, dass politische Philosophie der Neuzeit, wenn sie wirklich radikale philosophische Besinnung sein will, mit der stoischen Entdeckung des Willens und dem epikureischen Verständnis vom Annehmlichkeitscharakter des Glücks beginnen muss.