„Jetzt sollte ein ‚echter Dialog‘ beginnen“ – Kulturphilosophin Prof. Dr. Barbara Schellhammer über die Reise des Papstes nach Kanada

München, 27.07.2022 – Am Sonntag, den 24.07.2022, ist Papst Franziskus zu einer mehrtägigen „Bußreise“ nach Kanada aufgebrochen, um dort im Namen der Katholischen Kirche bei Indigenen für das um Verzeihung zu bitten, was tausenden Kindern indigener Bevölkerungsgruppen über Jahrzehnte hinweg an katholisch geführten Internaten, sogenannten „Indian Residential Schools“, widerfahren ist: Missbrauch, Misshandlung und gesellschaftliche Umerziehung, um „den Indianer im Kind zu töten“, wie es damals offiziell hieß. Expertin Barbara Schellhammer, Professorin für Intercultural Social Transformation an der Hochschule für Philosophie München (HFPH), gibt eine Einschätzung zu der Wirkung der Reise.

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Entschuldigung der Kirche als erster Schritt der Wiedergutmachung

Prof. Dr. Barbara Schellhammer beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit ethischen Fragen der interkulturellen Philosophie. Die Kultur und Geschichte der indigenen Bevölkerungsgruppen Kanadas stellen einen Fokus ihrer Forschungsarbeiten dar. „Die Kirche hat sich zur Handlangerin des kulturellen Genozids gemacht, der Missbrauch sitzt tief und betrifft viele Ebenen, geistlich, psychisch und physisch“, erklärt die Wissenschaftlerin. „Es ist daher sehr gut und wichtig, dass der Papst die Verantwortung der Kirche sieht, sich auf den weiten Weg nach Kanada macht und sich den Menschen zuwendet“, begrüßt Prof. Schellhammer die Intention der Papstreise.

Die jahrelange Missionierungsarbeit der Katholischen Kirche markiert einen folgenschweren Einschnitt in die Kultur der kanadischen Ureinwohner. Wenngleich die Bitte um Vergebung aus christlich-geprägter Sicht als große Geste verstanden wird, mahnt Prof. Schellhammer, auch die kulturelle Perspektive der Betroffenen einzunehmen und zu bedenken: „Die Begriffe ‚Bußreise‘, ‚Vergebung‘ und ‚Reconcilitation‘ sind Begriffe und Rituale, die nichts mit indigenen Traditionen zu tun haben – ganz im Gegenteil, sie entstammen dem kolonialen und missionaristischen Überbau der Residential Schools, für den sich der Papst entschuldigen möchte. Die Frage ist doch, was genau erwarten und brauchen die indigenen Menschen selbst?“

Entschuldigung des Papstes – wichtig aber auch richtig?

Prof. Schellhammer verweist auf die Gefahr, dass die Papstreise als „white washing“ verstanden werden könne, also nur das eigene Bedürfnis der Kirche betreffe, die Fehler der Vergangenheit abzuschütteln und ein öffentlichkeitswirksames Zeichen der Versöhnung zu setzen. „Ist das nicht auch wieder missbräuchlich und ein Schlag ins Gesicht aller Opfer der Residential Schools und des kulturellen Genozids? Tiefgreifende Dekolonialisierung sieht anders aus“, kritisiert die Kulturphilosophin. „Deshalb wohl entsenden die Inuvialuit, Inuit der westlichen Arktis, niemanden zu dem Treffen mit dem Papst in Iqaluit, sie glauben nicht an eine wirkliche Aufarbeitung“, unterstreicht sie ihr Bedenken.

Was auf die Entschuldigung des Papstes nun folgen muss

„Jetzt sollte, ganz im Sinne von Martin Buber, ein ‚echter Dialog‘ beginnen, nicht bloß ein ‚dialogisch verkleideter Monolog‘“. Schellhammer fordert, den Menschen der First Nations, Inuit und Métis in erster Linie zuzuhören und auf deren Bedürfnisse gezielt einzugehen. „Restitution“, also Wiederaufbau, sei hier ein Begriff, den sie vermehrt als Wunsch der Indigenen wahrnehme – ein entschiedenes Handeln zur Entschädigung als folgerichtige Konsequenz der Entschuldigung.

„Das Motto der Papstreise ‚Walking together‘ sollte ernstgenommen werden. Es meint mehr als eine einmalige Bußreise und Entschuldigungsbitte“, so Schellhammer weiter. „Es knüpft an die indigene Auffassung von Geschichte als einen zirkulären Prozess und an die Vorstellung einer relationalen Wirklichkeit an. Die Kirche darf nicht nur selektiv hören und Entschuldigungen inszenieren, sie muss sich wirklich auf den Weg der Umkehr (‚Buße‘) und Veränderung machen – auch wenn das etwas kostet.“

 

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Literaturverweise

 

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